Israel-Kritik: Die Infragestellung deutscher Vergangenheitsaufarbeitung
by Juliane Schicker (Carleton College)
In Deutschland schallt es „Nie wieder ist jetzt“ durch den Bundestag, der neue Kanzler Friedrich Merz will Netanjahu trotz Haftbefehls des Internationalen Gerichtshofs nach Deutschland einladen, und deutsche Politiker*innen rutschen verlegen in ihren Sitzen, als die Linken-Abgeordnete Cansın Köktürk wegen eines „Palestine“-T-Shirts von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) aus dem Plenarsaal verwiesen wird. In Österreich wird am 27. Oktober und 12. Dezember 2023 gegen eine humanitäre Waffenruhe in den Vereinten Nationen abgestimmt (zu der sich Deutschland enthielt) und dort wie in Deutschland werden pro-palästinensische Demonstrierende im Namen der „antifaschistischen“ Solidarität mit Israel zum Schweigen gebracht. Die beiden Staaten, aus denen die völkermörderische Ideologie der Nazis hervorging, erklären offiziell ihre bedingungslose Unterstützung Israels zur Staatsräson.
Doch die hegemoniale Einstellung dieser deutschsprachigen Länder zu Israel und dem Land, das niemand hier beim Namen nennen will, weil es offiziell nicht existieren soll, ist kompliziert, polarisierend und historisch fehlgeleitet. Die deutschsprachige Bevölkerung und ihre politischen Vertreter*innen tragen seit Langem nicht nur eine Verantwortung gegenüber jüdischen Menschen, sondern ebenso gegenüber der palästinensischen Bevölkerung. Deren Überleben und Schicksale wurden und werden direkt von den Taten derer beeinflusst, die—ob im heutigen Europa, im Dritten Reich oder schon davor—antisemitisch, rassistisch oder apathisch gehandelt haben und weiterhin handeln. Die Schichten dieser historischen Verstrickung sind komplex: Antisemitismus und Anti-Antisemitismus, insbesondere die Schrecken der Shoah, sind untrennbar mit der Gründung des Staates Israel und der Besetzung Palästinas verbunden. Diese hatten und haben katastrophale Folgen für die damals dort lebende Bevölkerung in der Geschichte und Gegenwart. Das Ignorieren dieses Zusammenhangs führt zu einer unvollständigen Geschichtsbetrachtung und der verfehlten Aufarbeitung dieser im deutschsprachigen Diskurs. Somit ist eine Kritik am Staat Israel unweigerlich eine Kritik an der Vergangenheitsaufarbeitung deutschsprachiger Länder und somit auch an deren Identitätsbildung als solche, die angeben, aus der Shoah gelernt zu haben.
Antisemitismus ist natürlich kein neues Phänomen, sondern hat eine alte „Tradition“ mit diversen Facetten, die im ausgehenden 19. Jahrhundert eine starke Zuspitzung, insbesondere in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich, erfuhren; also in zwei Ländern, die in Kultur und Politik eng verbunden waren. Viele der Juden und Jüdinnen dieser Zeit waren wohl weniger „bewusste Juden“, sondern vielmehr „sich ihrer Selbst bewusst“, also gehemmt und befangen in Bezug auf ihre jüdische Identität, wie es Steven Beller für das Wien der Jahrhundertwende behauptet (Beller, 1989, 74). Assimilation durch das Erscheinen als “arisch” sollte ihnen in einer antisemitischen Gesellschaft zum Überleben helfen, einer Gesellschaft, die zum Beispiel in Wien vom dortigen Bürgermeister Karl Lueger (1844–1910) systemisch-antisemitisch geleitet wurde. Lueger prägte den Ausspruch: „Wer ein Jud ist, bestimme ich“ (Schorske, 1980, 145), eine Prämisse, die später von einem anderen Österreicher weiter nördlich aufgegriffen werden sollte: Adolf Hitler. Mit Hitler und dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 polarisierte sich schließlich der Antisemitismus im deutschsprachigen Europa, denn auch im Deutschen Reich war die Situation der jüdischen Bevölkerung nicht besser als beim deutschsprachigen Nachbarn: dort wurden sie schon lange ihrer bürgerlichen Rechte beraubt und der Antisemitismus war—wie auch in Österreich-Ungarn—in Gesellschaft und Politik tief verankert.
Jüdische Stimmen in Wissenschaft und Kunst der Zeit kommentierten den antisemitischen Diskurs um den „guten Juden“, wie zum Beispiel der jüdische Philosoph und Wiener Mediziner Otto von Weininger mit seiner Idee der Selbstüberwindung der jüdischen Identität, um gesellschaftliche und berufliche Akzeptanz zu erlangen. Doch die von nicht-jüdischen Menschen eingeforderte und von der jüdischen Bevölkerung als Überlebensstrategie angenommene Assimilation erwies sich für viele nur als temporär und wenig erfolgreich. Andere Strategien, wie die Verbindung mit anderen Minderheiten und gesellschaftlichen Außenstehenden, dem Rückzug in die Welten der Natur und Kunst oder der gesellschaftliche Eskapismus, brachten ebenfalls keinen systemischen oder weitreichenden individuellen Fortschritt. So fasste eine andere Theorie Fuß, die der Diskriminierung entgegenwirken sollte: das Überwinden der Gesellschaft durch den Zionismus und die Gründung einer jüdischen Nation.
In einem Klima der Ausgrenzung und Ablehnung jüdischer Menschen in deutschsprachigen Ländern entwickelten sich zionistische Ideen weiter und der jüdische Journalist und Anwalt Theodor Herzl (1860–1904) kam in Ablehnung von Weiningers Ideen zu der Entscheidung, nicht das Individuum als Ansatzpunkt für Veränderung zu sehen, sondern den Staat und die politische Instanz. Herzl ging dann als Vater des modernen politischen Zionismus in die Geschichte ein. Sein Ziel der jüdischen Bevölkerung eine neue Heimat zu finden, wurde zum Mantra, und Orte in Deutschland, im Osmanischen Reich, in Britisch-Ostafrika oder konkret in Palästina wurden auserkoren zum modernen Zion. Für seine Idee eines jüdischen Staates ließ sich Herzl von Richard Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks inspirieren—dem Werk eines deutschen Komponisten mit antisemitischem Gedankengut.
Palästina war natürlich kein unbewohnter Ort, den man hätte einfach besiedeln können ohne auf andere Menschen zu treffen. Doch schon seit 1839 hatte es eine begrenzte, aber stetige jüdische Einwanderung nach Palästina gegeben und Herzl trieb die Erschließung des Landes durch umfangreiche diplomatische Anstrengungen weiter voran. Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich sind auch in diesen Bemühungen verbunden, als Herzl 1898 erstmals Jerusalem mit dem deutschen Kaiser Wilhelm II. besuchte. 1919 unterzeichnete dann der in Russland geborene jüdische Chemiker Chaim Weizmann—später der erste Präsident Israels—das Faisal-Weizmann-Abkommen; ein Versuch, die legitime Existenz eines Staates Israel in Palästina zu etablieren.
Nachdem die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, förderten auch sie die jüdische Einwanderung nach Palästina—nicht aus zionistischen Gründen, sondern aus dem Wunsch ein „judenreines“ Großdeutschland zu schaffen. Die NS-Führung zitierte zionistische Quellen, um ihre Behauptung zu untermauern, dass das jüdische Volk nicht assimiliert werden könne, und instrumentalisierte somit den Zionismus als Werkzeug für einen tödlichen Antisemitismus. Das Haavara-Abkommen von 1933, ein Abkommen zwischen NS-Deutschland und zionistischen Organisationen, sollte die Migration (wir würden die Begriffe „Ausreise“, „Selbstdeportation“ oder „Vertreibung“ in heutigen Medienberichten finden) von etwa 60.000 deutschen Juden und Jüdinnen nach Palästina zwischen 1933 und 1939 erleichtern. Es öffnete Palästina und den Nahen Osten auch für deutsche Exporte, was den deutschen Arbeitsmarkt ankurbelte und die wirtschaftliche Depression linderte—die Nazis erkannten die, wie Großbritannien vor ihnen, ökonomischen Vorteile eines jüdischen Staates. 1938 begannen die Nazis dann mit Massenvertreibungen von Juden und Jüdinnen nach Polen und entwickelten den Madagaskarplan, um sie mit Hilfe von zionistischen Ideen völlig zu „entfernen“. Die Verdrehung des Zionismus als „Unterstützung“ der jüdischen Emigration durch Nazideutschland dauerte bis 1941, als die „Endlösung“—der systematische Völkermord an Millionen von Juden und Jüdinnen und die Ermordung Hunderttausender anderer—die Oberhand gewann.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nachdem der Welt das brutale Ausmaß der nationalsozialistischen Ideologie in der Shoah bewusst geworden war (Instagram gab es damals ja noch nicht), wuchs die globale Unterstützung für den Zionismus. Am 14. Mai 1948 gründeten zionistische Kräfte dann den Staat Israel—viele Juden und Jüdinnen wurden dort zu Israelis. David Ben-Gurion wurde ihr erster Premierminister, Chaim Weizmann Präsident; im Hintergrund der Gründungszeremonie hing ein Bild von Herzl. Der für die Araber*innen Palästinas vorgesehene Staat wurde jedoch nie Realität, noch erlangte ein palästinensischer Staat jemals die breite internationale Anerkennung wie Israel. Israels Staatsgründung zog die Nakba („Katastrophe“) der Palästinenser*innen nach sich, in der etwa 750.000 von den insgesamt 1,9 Millionen Menschen Palästinas zu Flüchtlingen wurden, entweder aus Angst vor dem Krieg oder vertrieben durch das israelische Militär. Dieses zerstörte mindestens 530 Dörfer und Städte und tötete mehr als 15.000 Menschen. Am Ende dieses ersten großen Krieges um die Gründung des Staates Israel kontrollierte Israel das gesamte Gebiet, das die Vereinten Nationen für einen jüdischen Staat vorgeschlagen hatten, sowie fast 60% des für einen arabischen Staat vorgesehenen Gebiets und Westjerusalem.
Dieser Krieg und nachfolgende Konflikte haben seitdem über acht Millionen palästinensische Flüchtlinge hervorgebracht, die meist in benachbarten Ländern wie dem Libanon, Jordanien und Syrien in Flüchtlingsunterkünften unterkommen. Viele dieser Palästinenser*innen und deren Nachkommen haben kein Recht auf Rückkehr in das Land, was sie ihre Heimat nennen, es sei denn, sie erhalten die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes. Sie werden meist als staatenlos angesehen, da andere Länder Palästina nicht als legitimen Staat anerkennen. Der Reisepass der Palästinensischen Autonomiebehörde wird nur Menschen ausgestellt, die schon in Palästina wohnen. Serien und Filme wie Mo oder Salt of this Sea sowie der Oscar-prämierte Dokumentarfilm No Other Land beleuchten Erfahrungen von Palästinenser*innen damals und heute.
Der De-facto-Staat Palästina umfasst heute die von Israel besetzten Gebiete des Westjordanlands und des Gazastreifens, sowie Ostjerusalem, wobei letzteres sowohl für Palästinenser*innen als auch für Israeli als ihr Land gilt. Die jüngsten Truppenbewegungen Israels ziehen nun schon wieder eine neue „gelbe Linie“. Auch in Israel selbst leben palästinensische Menschen, die meist Bürger*innen oder staatenlose „ständige Einwohner*innen“ Israels sind, einschließlich derer, die in Ostjerusalem und den Golanhöhen wohnen. Diese in Israel lebende, mehrheitlich arabische Bevölkerung stellt mit ca. 20% der dort lebenden Menschen die größte Minderheit des Landes dar. Obwohl sie (je nach Staatsbürgerstatus) seit den späten 1960ern Jahren auf dem Papier annähernd gleiche Rechte wie jüdische Staatsbürger*innen haben, sind viele von ihnen rechtlicher und alltäglichen Diskriminierungen, geografischer Segregation und sozioökonomischen Nachteilen ausgesetzt. So hallt die Jahrhundertwende aus Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich im Israel von heute wider.
Wir können also einen roten Faden vom modernen Antisemitismus in den deutschsprachigen Ländern über den „Anti-Antisemitismus“ des Zionismus bis hin zum tödlichen Antisemitismus des nationalsozialistischen Deutschlands und seinen tiefgreifenden Folgen ziehen, einschließlich der aktuellen Auswirkungen für das palästinensische Volk, besonders in Gaza. Doch die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg fokussierte sich nicht etwa auf diese Verbindungen, sondern auf der Etablierung eines robusten Systems der Erinnerungskultur, das darauf abzielt, die schreckliche Vergangenheit in Bezug auf die jüdische Bevölkerung aufzuarbeiten und dafür Sühne zu leisten. Dabei vergisst, ignoriert und lehnt diese Erinnerungskultur aber ab, die Geschichte der Palästinenser*innen mit einzubeziehen. Diese selektive Erinnerungskultur übersieht, dass die Gründung Israels als Reaktion auf die Shoah auch die „Dis/Re/lokation“ von Palästinenser*innen (mit den Worten von Gisela Brinker-Gabler, 1996, 265) nach sich zog. Sie klammert die Nakba aus, verstößt sie regelrecht, obwohl diese eine der Folgen des Völkermordes an den Juden und Jüdinnen ist und, wie wir hier gesehen haben, auch eine Folge des modernen Antisemitismus, der sich im Europa der Jahrhundertwende fast ungezügelt entwickeln konnte.
Betrachtet man die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung und politische Ausrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, so gab es ursprünglich zwei unterschiedliche Reaktionen auf den Diskurs über Palästina—wenn auch nicht wirklich zwei unterschiedliche Erinnerungskulturen. Westdeutschland unterstützte während der deutschen Teilung zwischen 1949 und 1990 offiziell pro-israelische und pro-zionistische Ansichten, die Deutsche Demokratische Republik hingegen das palästinensische Volk, während es den Zionismus als Form von Rassismus und Imperialismus ablehnte. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden ostdeutsche Meinungen und Ansichten jedoch weitgehend ignoriert und belächelt, so dass anders gerichtete politische Ansichten nicht für das neue Deutschland in Erwägung gezogen wurden. Westdeutschland sah sich schließlich als doppelten Sieger: als Bezwinger der eigenen Schuld im Vergangenheitsaufarbeitungsprozess der Shoah und auch als Gewinner der Wende, die sich nach Westen drehte und die DDR als völligen Verlierer dastehen ließ. Somit sind selbst der Diskurs der Wiedervereinigung und Deutschlands Umgang mit der Shoah und Israel eng miteinander verbunden, ein Thema, das ich in einem anderen Artikel ausführlicher behandle.
In ihrem Buch Learning from the Germans von 2019 spricht Susan Neiman über den Erfolg der deutschen Erinnerungskultur im Hinblick auf die Shoah als Modell für andere Länder, insbesondere für die Vereinigten Staaten hinsichtlich der Teilungsgeschichte durch den Bürgerkrieg. Damals war noch nicht jedem klar, was wir heute alle wissen sollten: dass eigentlich fast niemand von den Deutschen gelernt hat, nicht einmal die Deutschen selbst, insbesondere wenn es darum geht, Völkermord oder andere Gräueltaten zu begehen oder zu unterstützen. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass Deutschland weiterhin Rüstungsgüter nach Israel exportiert (obwohl es sehr kürzlich verkündete, dies nicht mehr tun zu wollen). Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 13. Mai 2025 hat die deutsche Bundesregierung Rüstungsgüter im Wert von 485.103.796 Euro nach Israel ausgeführt. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck konstatiert im selben Strang, dass die Handlungen Israels in Gaza „kein Genozid“ seien—obwohl Institutionen wie Amnesty International, ein Sonderkomitee der Vereinten Nationen, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen, Holocaustforscher wie die Israelis Raz Segal oder Omer Bartov und erst kürzlich zwei führende Menschenrechtsorganisationen in Israel, B’Tselem und Physicians for Human Rights (Israel), das klare Gegenteil argumentieren, und das mit mehr Expertise zum Thema als Gauck sie hat. Antisemitismus ist auch immer noch ein Problem in Deutschland, und die als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei Alternative für Deutschland hat ein leichtes Spiel.
Dieses mangelnde Lernen in Bezug auf die Lehren der Shoah hat heute massive Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit in Deutschland, nicht nur, aber dringlich im Zusammenhang mit pro-palästinensischen Stimmen—mögen sie arabisch oder jüdisch sein oder von weißen Menschen oder People of Color geäußert werden. Dies hat zu dem geführt, was viele heute als die „Palestine Exception“—auf Deutsch den „Palästina-Ausnahmefall“—bezeichnen, mit dem auch die USA zu kämpfen haben. Dabei handelt es sich um eine Zensur, die angewendet wird, wenn positiv über Palästina gesprochen wird und die in den USA und Deutschland zu Inhaftierungen und möglichen Abschiebung aufgrund der Anschuldigung von Antisemitismus geführt hat.
Ein Beispiel verdeutlicht, wie diese Zensur fehlgeleitet ist: Palästinenser*innen werden in Deutschland größtenteils als Musli*mas gelesen. Als diese haben sie in Deutschland schon lange, aber besonders im momentanen politischen Diskurs um den Bundeskanzler Merz ganz konkret eine zentrale Rolle in der Shoah-Gedenkkultur des Landes eingenommen: Denen, die als muslimische und als „braune Menschen“ gelesen werden, wird die Schuld am Antisemitismus als „natürliche Antisemit*innen“ zugeschrieben—der Antisemitismus wird also bequem ausgelagert. (Ähnlich passiert das auch mit dem Rechtsextremismus, der exklusiv in den Osten Deutschlands transferiert wird.) Die jüngste Bundestagsresolution nennt ausdrücklich das Migrationsrecht und den Staatsbürgerschaftsstatus als Mittel zur Bekämpfung des Antisemitismus. Das bedeutet: Antisemitismus wird nicht als einheimisch, sondern als importiert angesehen. Dies ist nicht nur eine Meinung, die die Alternative für Deutschland für ihre politischen Zwecke nutzt, sondern die das Oberhaupt des Landes (ein CDU-Parteimitglied) auch in amerikanischen Medien lautstark verbreitet. Die „Anderen“ müssen umerzogen und reformiert werden, um in eine Gesellschaft in Deutschland zu passen, die glaubt, sich bereits mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt zu haben und nicht mehr antisemitisch oder rassistisch zu sein (oder, wo wir gerade dabei sind, sexistisch, homophob, transphob und ableistisch). Wenn diese Menschen nicht „umerzogen“ werden können, werden sie gezwungen, das Land zu verlassen (das „Stadtbild“!) und sie können sich nicht mehr öffentlich äußern ohne Repressalien zu fürchten. Auch hier hallt die deutschsprachige Geschichte laut und deutlich wider.
Um sich stärker in seine eigene Identität zu verbeißen und Kritiker*innen der deutschen Identität den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat der Deutsche Bundestag im November 2024 die Resolution „Nie Wieder ist Jetzt“ verabschiedet, die dem Schutz, der Erhaltung und der Stärkung jüdischen Lebens in Deutschland dienen soll. Mit dieser Resolution stellt sich Deutschland als Land dar, das seinen Antisemitismus bereits in der Aufarbeitung der Shoah gesühnt hat. Seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober führte Deutschland nun eine sich zuspitzende kulturelle Zensurkampagne gegen Kritiker*innen des israelischen Staates und seines Militärs, um seine eigene Identität als „gesühnte Nation“ aufrechtzuerhalten. Doch schon 2019 erklärte der Bundestag in einer Resolution die Methoden und Argumentationsstrukturen der BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), einer globalen Kampagne zur Isolation Israels, für antisemitisch. Nach 2023 nahmen Verbote und Einschränkungen gegen Israelkritiker*innen dann zahlreich zu. Die jüdische Journalist*in und Schriftsteller*in Masha Gessen beispielsweise wurde wegen der Kritik an der israelischen Armee im Gazastreifen zensiert, und man versuchte, Gessen den Hannah-Arendt-Preis nicht zu verleihen. (Die Heinrich-Böll-Stiftung, deren Ziel eine „politische Bildungsarbeit im In- und Ausland zur Förderung der demokratischen Willensbildung, des gesellschaftspolitischen Engagements und der Völkerverständigung“ ist, hatte besondere Probleme mit dieser Verleihung.) Diskussionen über palästinensische Themen wurden aus den öffentlichen Medien entfernt, und es kam und kommt immer wieder zu gewaltsamen Polizeieinsätzen gegen pro-palästinensische Demonstrierende und Organisationen, die offiziell als pro-Hamas eingestuft werden, besonders in Berlin.
Die Resolution „Nie Wieder ist Jetzt“ ermöglicht es der Regierung, die Finanzierung akademischer oder künstlerischer Projekte, Organisationen oder Einzelpersonen zu streichen, die die palästinensische Befreiung unterstützen oder den israelischen Staat kritisieren—denn wer Israel kritisiert, kritisiert jetzt eben auch die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung. Felix Klein, der erste Amtsinhaber des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus—selbst nicht jüdisch—behauptet, liberale Juden und Jüdinnen in Deutschland, die Israel kritisieren, müssten bei ihrer Kritik an Israel für die deutsche Geschichte sensibilisiert werden. Er forderte zudem eine härtere Bestrafung von mutmaßlichem Antisemitismus an Universitäten und rief diese auf, die Polizei gegen Demonstrierende einzusetzen—etwas, das wir vor allem seit dem 7. Oktober auch in den USA beobachten konnten. Ein Nicht-Jude erklärt Juden und Jüdinnen also, was es mit der deutschen Geschichte auf sich hat. Als ob diese das nicht schon sehr genau wüssten! Es scheint, dass deutsche Sensibilitäten Vorrang vor dem Schutz jüdischer und auch muslimischer Menschen haben.
Während pro-palästinensische Demonstrierende, selbst wenn sie EU-Bürger*innen sind, aus Deutschland abgeschoben werden sollen, während Fördermittel gekürzt, Veranstaltungen abgesagt und Wissenschaftler*innen sowie Künstler*innen ausgeladen werden, wählen immer mehr Menschen die offen-rassistische AfD. Gleichzeitig kann Elon Musk—Herr „Hitlergruß“— in Deutschland weiterhin Geschäfte machen. Auch die Polizei in Deutschland hat nach wie vor viele Mitglieder mit zutiefst rassistischen und antisemitischen Ansichten, wie Protokolle von WhatsApp-Gruppenchats zeigen. Doch auch hier sieht man keinen wirklichen Bedarf, Studien in Auftrag zu geben oder Weiterbildungen zu unterstützen, die diesen demokratieschädlichen Ansichten entgegenwirken könnten.
In den ersten zwei Wochen nach dem 7. Oktober waren in Berlin sämtliche pro-palästinensische Demonstrationen verboten—einschließlich Antikriegsdemos und allgemein antirassistische Kundgebungen. Die Polizei kündigte an, eine angemeldete Demonstration aufzulösen, sollte die Menge „Stoppt den Krieg“ skandieren. Der Ruf nach einem Waffenstillstand wurde mit der Verweigerung des Verteidigungsrechts Israels gleichgesetzt und sei daher gleichbedeutend mit dem Wunsch nach der Ermordung israelischer Juden und Jüdinnen und damit mit Antisemitismus. Die Berliner Polizei verbot das Sprechen von Arabisch und Hebräisch auf Demonstrationen. FDP und CDU forderten die polizeiliche Überwachung von Berliner Professor*innen und den Entzug von Forschungsgeldern, wenn Lehrende pro-palästinensische Proteste unterstützten. Theaterstücke, Preise und Ausstellungen wurden in alarmierender Geschwindigkeit abgesagt. Der Berliner Senat riet seinen Schulen, jeglichen Ausdruck palästinensischer Identität zu verbieten, und Menschen wurden brutal festgenommen, weil sie eine Kufiya (das „Palästinensertuch“) trugen. Offizielle Berliner Parteien wollten in Bildungseinrichtungen Flugblätter verteilen, die die Nakba als Mythos darstellen. Neben Holocaust-Leugnenden gibt es jetzt also auch offizielle Nakba-Leugner—eine Leerstelle in der Geschichte wurde nun zu Fake News. Auch Nobelpreisträgerinnen taten sich mit der Wahrheit, die man auf sozialen Medien oft live verfolgen konnte, schwer: Herta Müller (rumänisch-deutsche Schriftstellerin, Literaturnobelpreisträgerin 2009) sagte in der FAZ, die Bilder aus Gaza seien nicht echt. Zweckdienlich wurde 2024 das Staatsbürgerschaftsgesetz dahingehend geändert, dass Menschen, die jemals an antisemitischen Demonstrationen teilgenommen hatten—eine Kategorie, die nun jede palästinensische Solidaritätsveranstaltung umfassen konnte—, vollständig von der Einreise nach Deutschland ausgeschlossen werden konnten. Deutschland hat es wirklich schwer mit Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes…
Doch die „Nie Wieder ist Jetzt“ Resolution und ihre Umsetzung stellen sich als kompliziert heraus: Wer definiert denn jüdisches Leben in Deutschland—jüdische Menschen oder Politiker*innen und Medienstimmen, die meist nicht-jüdisch sind? Was ist eine angemessene Erinnerung an die Shoah und wer definiert diese? Was genau ist Antisemitismus? Und wie treten die Demokratie und der Rechtsstaat in diesem Zusammenhang in Aktion? Müsste man nicht zugeben, dass Antisemitismus nicht importiert ist, wenn es in Deutschland 2023 zwar zu einem starken Anstieg antisemitischer Angriffe kam, von denen aber 60% von Rechtsextremist*innen (und nicht pro-palästinensischen Aktivist*innen) verübt wurden und „nur“ 23% von Menschen mit „ausländischer Ideologie“? Es war einfacher, Antisemitismus der Lage anzupassen und zum Beispiel den Spruch „From the River to the Sea“ zu kriminalisieren—und dabei zu vergessen, dass Israel diesen Spruch auch nutzte, um sich selbst politisch zu positionieren. Es wurde schon so oft gesagt und doch nie geglaubt: Die deutsche Resolution geht nicht nur von einem islamischen Antisemitismus aus, sondern vermischt klar Kritik am Staat Israel mit Angriffen auf jüdische Mitglieder der Gesellschaft und greift damit Juden und Jüdinnen selbst an, die der israelischen Regierung kritisch gegenüberstehen.
All das bedeutet, dass die „Palestine-Exception“ eng mit Deutschlands Umgang mit seinen Gräueltaten in Vergangenheit und Gegenwart verwoben ist, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Shoah. In der Praxis akzeptieren deutsche Entscheidungstragende diese Verbindung nur sehr selten, da das Schicksal Israels so eng mit Deutschlands Identität verbunden ist—einer Identität, die sich angeblich selbst schon von all ihrer Schuld erlöst hat. So kommen wir also zu einem Anti-Antisemitismus, der jüdisches Leben nicht schützt, bewahrt und stärkt, sondern marginalisierte und rassifizierte Gruppen—darunter besonders Juden und Jüdinnen—einem größeren Risiko in Deutschland aussetzt. Und natürlich erkennt diese Resolution Deutschlands Verstrickung in den aktuellen Völkermord im Gazastreifen nicht an—weder seine finanzielle Beteiligung noch seine historische Verantwortung.
Deutschlands Anti-Antisemitismus konzentriert sich auf die Zensur nicht gewollter Stimmen und auf Schweigetaktiken, die eingesetzt werden, damit die deutsche Regierung ihre eigene Identität nicht in Frage stellen muss. Das bedeutet auch, dass die Realitäten derjenigen, die den offiziellen deutschen Diskurs doch in Frage stellen, aufgrund ihrer „falschen Weltanschauung“ geleugnet und ihre Unterstützenden ebenfalls disqualifiziert werden. So werden im Mainstream-Diskurs— selbst in hochgebildeten Kreisen—Palästinenser*innen und die, die sie unterstützen oft mit der Hamas gleichgesetzt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief zum Beispiel alle Menschen mit arabischen Wurzeln dazu auf, sich von der Hamas zu distanzieren. Man stelle sich vor, alle Männer würden unter Androhung von Gefängnisstrafen dazu aufgerufen, bitte keine Frauen zu vergewaltigen… Jede Solidaritätsbekundung mit Palästina oder die Sorge um das palästinensische Volk wird de facto als pro-Hamas und antisemitisch ausgelegt und zensiert.
Laut Susan Neiman hätten wir Deutschen wirklich lernen sollen, Völkermorde zu vermeiden. Doch dieses Lernen stellt sich nicht nur im Hinblick auf die Shoah als komplex und kompliziert heraus. Hitler wandte zum Beispiel das amerikanische Kastensystem der Rassendiskriminierung als Vorbild für sein Ziel der Judenvernichtung an—da hatte ein Österreicher/ eingebürgerter Deutscher also schon von den US-Amerikaner*innen gelernt. Vor Hitler gab es den Völkermord an den Herero und Nama, der von den Deutschen begangen und erst 2004 anerkannt und 2021 mit Reparationszahlungen beantwortet wurde. Dieses Wissen wurde in Deutschland lange Zeit nicht im Bildungssystem weitergegeben. Genauso ist vielen Deutschen nicht klar, was Palästina mit ihnen und ihrer Vergangenheit zu tun hat—und deshalb fallen sie leicht auf die Palestine Exception herein.
Vielleicht wurde hier nun doch klar, dass Israels Umgang mit den Palästinenser*innen teilweise auf der Existenz des israelischen Staates beruht, die wiederum teilweise auf der Shoah und dem Antisemitismus in ganz Europa fußt, insbesondere in Österreich-Ungarn und Deutschland. Sowohl die Shoah als auch der Antisemitismus wurden von Deutschen und Österreicher*innen begangen und verfeinert. Das bedeutet demnach, dass deutschsprachige Länder eine Verantwortung für Palästinenser*innen tragen, genau wie sie eine für Juden und Jüdinnen beanspruchen.
Der offizielle deutsche Diskurs konzentriert sich jedoch immer noch nur auf die Shoah und den eigens definierten Antisemitismus ohne Blick auf das palästinensische Volk und kann der Komplexität der historischen Verflechtungen nicht gerecht werden. Als die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel 2008 eine Rede vor der Knesset hielt, festigte sie Deutschlands Identität: Deutschland habe eine besondere historische Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk, die ohne Zweifel Teil der deutschen Staatsräson sei. Die Sicherheit Israels (schon wieder ein komplizierter Terminus) sei für Deutschland also niemals verhandelbar. Auch wenn es zeitweise leichte Kritik an bestimmten israelischen Aktionen unter Politiker*innen gibt, stehen diese im öffentlichen Diskurs doch der israelischen Regierung deutlich weniger kritisch gegenüber—was sich erst langsam aufgrund des öffentlichen Drucks genau der pro-palästinensischen Stimmen ändert, die im Diskurs verteufelt werden.
All das zeigt, dass es in Deutschlands Verhältnis zum Antisemitismus nicht um die Juden und Jüdinnen und ihren Schutz geht, sondern um Deutschland selbst und den Schutz seiner Identitätsbildung und Vergangenheitsaufarbeitung. Israel und Deutschland bilden die zivilisiertesten Nationen in diesem Diskurs: das eine Land, weil viele seiner heutigen Bürger*innen einen Völkermord und seine Konsequenzen am eigenen Leib erlebt haben, das andere, weil es diesen Völkermord begangen hat und anschließend aufgearbeitet haben will. Das bedeutet also auch, dass Israel und Deutschland anderen vorgeben wollen, wie sie sich zu verhalten haben. Und das bedeutet nun auch, dass der Täter von Shoah, kolonialen Massakern und aktuellen rechtsextremen Bewegungen als moralische Autorität für die Vermittlung von Lehren aus der Geschichte angesehen werden will, während er selbst einen weiteren Völkermord unterstützt. Darum ist deutscher Nationalismus unter dem Deckmantel der Unterstützung eines israelischen Nationalismus wieder en vogue.
Mal wieder sind es die Deutschen, die bestimmen, wer ein Jude ist.
Bibliographie
Beller, Steven. Vienna and the Jews, 1867–1938: A Cultural History. Cambridge: Cambridge University Press, 1989.
Brinker-Gabler, Gisela and Sidonie Smith, eds. Writing New Identities: Gender, Nation, and Immigration in Contemporary Europe. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 1996.
Schorske, Carl E. Fin-de-siècle Vienna: Politics and Culture. New York: Knopf, 1980.

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